Auf dem Weg in die Berge fuhren wir durch das kleine, urige Dorf Aristi, welches sich am westlichen Rand der Vikos Schlucht befand und wo wir von der Terrasse der Café-Bar Mesochori die spektakuläre Aussicht auf die Pindos-Berge und die Landschaft von Zagori genossen. Anschließend fuhren wir ca. 200 Höhenmeter in die Tiefe, um den Voidomatis Fluss, der wenige Kilometer flussaufwärts die imposante Vikos-Schlucht in den Fels geschnitten hatte, über die steinerne Aristi Bogenbrücke zu überqueren. Erst dann begann die eigentliche Steigung nach Papigko und die Strecke wurde außerordentlich kurvenreich, aber die Blicke aus dem Fenster waren einfach atemberaubend. Wir hielten immer wieder an, um unsere Namen in die Vikos Schlucht zu rufen und dem widerhallenden Echo zu lauschen. Allerdings auch, um unserer immer wieder aufkommenden Übelkeit Einhalt zu gebieten.
Jonas hatte uns via booking.com ein Zimmer in dem süßen Berghotel "Traditional Rooms Karaouli" gebucht, welches in dem kleineren Ortsteil Mikro Papigko lag. Am Ortseingang parkten wir in einer Sackgasse hinter einer byzantinischen Kirche, da der weitere Weg zu unserem Hotel nur zu Fuß möglich war. Die Häuser waren traditionell aus lokalem Stein errichtet worden und über den engen, mit groben Kopfsteinpflaster ausgelegten Gassen hingen Bohnengewächse, in deren Schatten ein paar Katzen herumlümmelten und auf die nächste Streicheleinheit warteten. Am Hotel angekommen, wurden wir sehr herzlich von einem älteren Ehepaar begrüßt, welches uns unser Zimmer für die Nacht zeigte und uns anschließend anbot, via Quad zu unserem Auto zurückfahren, um unser Gepäck zu holen.
Zusammen mit einem kleinen Fläschchen selbstgebranntem Tsipouro (das wir auf unserem Zimmer gefunden hatten) und einigen Katzen (die es sich gerne in unserem Zimmer gemütlich gemacht hätten) saßen wir noch lang auf der Terrasse und genossen die Atmosphäre dieser unwirklichen Umgebung. Vom traditionellen griechischen Tresterbrand beschwingt, beschlossen wir, am nächsten Tag eine vierstündige Wanderung zum Astraka-Plateau zu unternehmen, von wo aus der Drachensee (Drakolimni) zu erreichen wäre. Eine völlig naive Idee, wie wir später herausfinden sollten...
Am nächsten Morgen bereitete uns die Hausherrin persönlich ein ausgiebiges Frühstück zu und danach wir riefen im "Mountain Refuge of Astraka & Timfi" an, um uns dort zwei Betten zu reservieren. Man hielt uns dazu an, eigene Schlafsäcke mitzunehmen, da vor Ort kein Bettzeug existierte. Generell war die Hütte eher ein Notrefugium, das Wanderern Schutz in der rauen oder schwer zugänglichen Region gewähren sollte. Wir machten uns also darauf gefasst, auf grundlegende Einrichtungen und minimale Bequemlichkeiten zu treffen. Um 11 Uhr checkten wir schweren Herzens aus und machten uns auf den Weg zu den Papigko Rock Pools (Ovires of Rogovo), natürliche Wasserbecken, die durch die Erosion von Kalksteinfelsen durch das fließende Wasser des Rogovo-Bachs geformt wurden. Sie befinden sich im Tal zwischen Mikro und Megalo Papigko und können sehr gut via Auto und über einen markierten Pfad von der Hauptstraße aus erreicht werden. (Hier gibt es übrigens einen weiteren Geocache!)
Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen: Die Becken waren unterschiedlich tief und breit, das Wasser war klar und leuchtend hellblau. Das Sonnenlicht brach sich auf der glitzernden Wasseroberfläche und warf funkelnde Schatten auf die hohen Felswände, die sich harmonisch um die Becken schichteten. Darum herum wimmelte es von bunten Schmetterlingen, die über die Felsen und das Wasser tanzten, hier und da tauchte ein Gecko aus den Sträuchern oder zwischen den Felsspalten hervor. Als Jonas den Fuß ins Wasser streckte, zog er diesen eilig zurück. "Das ist eiskalt! Das tut richtig weh!" rief er. Ich lachte, während ich mir die Kleider auszog und verstummte dann schnell, als ich mich selbst ins Wasser begab. Yep, das war tatsächlich kalt!
Zurück am Auto packten wir unsere Rücksäcke mit dem Allernötigsten für unsere bevorstehende Bergwanderung und brachen dann gegen 14 Uhr auf. Und ja, das war sicherlich die denkbar schlechteste Tageszeit, um auf einen ca. 2.000 Meter hohen Berg zu steigen. Wir hatten eine Temperatur von 29 Grad Celsius und mussten mit einer durchschnittlichen Steigung von 18% rechnen. All Trails stuft diese 5,3-Kilometer lange Strecke als schwer ein und weist einen Anstieg von etwa 947 Höhenmetern aus. Ich hatte nur ein paar Sportschuhe dabei, die ich 2014 fürs Fitnessstudio gekauft hatte und nach 12 Minuten Wanderung löste sich schon die Sohle des einen Schuhs. Wir liefen trotzdem weiter, obwohl mich meine Kräfte schon nach einer kurzen Zeit verließen. Ich hatte mir den Anstieg nicht im Ansatz so anstrengend vorgestellt. Ich zickte Jonas an, weil er so vorpreschte und scheinbar eine viel bessere Kondition hatte als ich, und er zickte zurück, weil er so genervt von den Insekten war, die sich an uns hefteten. Wir wanderten auf unserem ersten Stück auf relativ befestigter Erde in einem lichten Wald unter Buchen und Eichen her, aber der Schatten machte die buhlende Hitze nicht wirklich erträglicher. Hätte ich bei der ersten Rast gewusst, was uns noch bevor stand, hätte ich definitiv abgebrochen, denn erst danach wurde es richtig steil und der Boden wich steinigem Geröll. Den Wald ließen wir hinter uns, was toll war, weil die Insekten uns nicht mehr folgten, aber nun brannte die Sonne unerbittlich auf unseren Köpfen. Mittlerweile liefen wir beide ohne Oberteil und mir lief der Schweiß unter meinem Rucksack den Rücken hinab. Ich war auf alles und jeden wütend, vor allem auf die Menschen, die uns auf dem Weg bergab entgegenkamen und uns auf die schlechte Wahl der Tageszeit verwiesen. Ich hatte mir zwei furchtbare Blasen gelaufen und konnte die Blasenpflaster in meinem riesigen Ungetüm von Rucksack nicht finden. Den Müll, den wir auf unserem Weg produzierten, würden wir permanent mit uns herumtragen müssen, bis wir den Nationalpark wieder verlassen hatten, denn auf dem Wanderweg gab es nirgends Mülleimer, um die natürliche Umgebung so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. So schnallte ich mir neben meinem Rucksack und dem Schlafsack also auch noch einen Müllbeutel um, der mir bei jedem Schritt gegen das Bein prallte. Bei unserer zweiten Rast hatte ich mich schon wieder ein wenig gefangen, denn die Aussicht war einfach famos und mit zunehmender Höhe wurde das Klima aufgrund des aufkommenden Windes angenehmer. Bei unserer nächsten Rast fing meine Leiste an zu schmerzen und jeder Schritt machte mir Probleme, was auch die tolle Aussicht nicht mehr wettmachen konnte. Bei der letzten Rast war ich vor Schmerzen den Tränen nahe und warf ich mir eine Ibuprofen ein. Es war mittlerweile so kalt, dass ich wieder ein Oberteil trug und eine Jacke angezogen hatte, als Jonas rief: "Da ist die Hütte!". Tatsächlich, wir hatten es fast geschafft und mir kamen wieder die Tränen; diesmal vor Erleichterung. Als wir um Punkt 18 Uhr die ersten Schritte (humpelnd) auf das windgepeitschte Plateau setzten, wusste ich gar nicht, wie mir geschieht. Das Panorama war einfach unbeschreiblich. Es fühlte sich an, als befänden wir uns auf einem anderen Planeten, fernab allem, was wir kannten. Direkt neben uns war der Astraka Gipfel zum Greifen nah und ich sah Edelweiß auf der Wiese vor uns blühen, welcher nur in Höhenlagen zwischen etwa 1.800 und 3.000 Metern über dem Meeresspiegel gedieh und aufgrund seiner Seltenheit und schweren Zugänglichkeit oft als "die Blume der Tapferen" angesehen wird, was ich in diesem Moment sehr passend fand. Daneben grasten ein paar Balkangämse in der Abendsonne. Der Wind war eiskalt und trocknete mir mein von Schweiß und Tränen feuchtes Gesicht. Jonas deutete auf den Schnee auf dem Gipfel und ich konnte es immer noch kaum glauben, dass wir es tatsächlich hier hoch geschafft hatten.
Die Hüttenwartin führte uns eine Treppe hinauf in den Schlafsaal und wies uns zwei Hochbetten zu. Ich glaube, in dem Moment hätten wir uns über alles gefreut, was man uns vor die Nase gesetzt hätte, denn Jonas und ich empfanden beide so ein Hochgefühl über die gerade zurückgelegten 1000 Höhenmeter, dass wir uns, noch vor den spartanischen Betten stehend, strahlend in die Arme fielen und uns auf die bevorstehende Nacht mit den 24 anderen Wanderern freuten. Zurück auf der Terrasse des Refugiums stießen wir erneut mit einem Tsipouro an, ein wenig weiser und erfahrener nun, mit einigen Vorsätzen, was wir bei unserer nächsten Wanderung anders machen würden. Dort blieben wir sitzen, bis wir den Sternenhimmel sahen. Um 22 Uhr wurde der Strom abgestellt und wir machten uns schnell auf den Weg in den gemeinschaftlichen Waschraum, um uns die Zähne zu putzen. Als wir dann die Treppe zum Schlafsaal hinaufstiegen, war es stockdunkel und alle lagen schon in ihren Betten. Ich versuchte blind und wegen meiner Leiste ächzend, in mein Hochbett zu gelangen, wo ich mich halb auf meinen Rucksack legte, der noch unausgepackt auf der Matratze lag. Während ich also möglichst leise und mit dem bisschen Licht, was mein Handy Display verströmte, versuchte, meinen Schlafsack auszurollen und meine Ohrstöpsel zu finden, wackelte das ganze Bett und Jonas lachte immer wieder über die Absurdität unserer Situation. Ich kam mir schrecklich rücksichtslos vor und ließ den Schlafsack dann einfach so, wie er aus seiner Hülle herausgeschnellt kam, sodass ich mit dem Kopf zu Jonas' Füßen lag, was zu erneutem Kichern aus seiner Richtung führte. Die Ohrstöpsel fand ich natürlich nicht und weiter kramen konnte ich auch nicht, dafür war es viel zu leise in dem Schlafsaal, was vermutlich eher daran lag, dass noch keiner wirklich am schlafen war. Einige Minuten später aber war der Saal von lauten Schnarchgeräuschen erfüllt, was ein Einschlafen ohne Ohrstöpsel unmöglich machte, zumal es außerdem bitterkalt war, denn draußen herrschten nur noch 5 Grad und es gab keine Heizungen... Nach erneutem Kramen fand ich zumindest meine AirPods und schlief ein, bis ich eine halbe Stunde später davon geweckt wurde, das Jonas mich durchrüttelte. "Schatz, kann ich deine AirPods haben? Ich finde meine nicht!" Ich verneinte, weil ich sie ja selber brauchte und gab ihm eine Servierte aus meiner Hosentasche (ich war ja nicht mehr dazu gekommen, mir eine Schlafhose anzuziehen), damit er sich diese zurecht reißen und in die Ohren stopfen konnte. Ich schlief wieder ein, aber erwachte nach zwei Stunden erneut, weil der Akku meiner AirPods aufgab und ich nun dem Orchester ungleicher Atemzüge ausgesetzt war, das von tiefen, rhythmischen Schnarchgeräuschen geleitet wurde. Manche Töne erinnern an das sanfte Brummen alter Kühlschränke, andere glichen dem Grollen eines entfernten Donners. Es war so laut, dass das abermalige Rödeln in meinem Rucksack überhaupt nicht auffiel und irgendwann fand ich endlich meine Ohrstöpsel und schlief wieder ein, bis ich davon erwachte, dass mir in meinem Schlafsack und den sechs Lagen Kleidung viel zu heiß war. Ich war komplett nass geschwitzt und wünschte mir, die Nacht möge endlich vorbei sein. Ab 5 Uhr schaute ich minütlich auf die Uhr und wog die Vor- und Nachteile ab, nun bereits aufzustehen. Das Schnarchen drang mittlerweile eh durch die Ohrstöpsel hindurch und meine Nerven lagen blank. Entschlossen, diesem Horror zu entgehen, egal wie lange es noch dauern würde, bis der Strom angestellt und es den ersten Kaffee geben würde, stieg ich leise jammernd (Oh Gott, meine Leiste!) erst die wackelnde Treppe meines Hochbetts und dann die Treppe zum Waschraum hinab, wo ich auf der Toilette, einem schlichten Loch im Boden, feststellte, dass ich eine Blasenentzündung bekommen hatte. Als ich aus der Kabine hinaustrat, hörte ich schlurfende Schritte und kurz darauf erschien glücklicherweise Jonas' Kopf in der Tür zum Waschraum. Wir putzten uns müde die Zähne (nicht gegenseitig) und setzen uns nach draußen, um uns den Sonnenaufgang anzusehen. Zwei Stunden später gab es dann das heiß ersehnte Frühstück (und den Kaffee, jauchz!). Wir entschieden, nicht weiter bis zum Drachensee zu gehen, denn ich war froh, wenn ich es mit meiner Leiste und den kaputten Schuhen überhaupt wieder von diesem Berg herunter schaffte. Das stimmte mich schon sehr enttäuscht, denn ich hätte das Naturschauspiel wirklich gern mit eigenen Augen gesehen... Nachdem ich die Sohle meines rechten Schuhs mit etwas Klebeband befestigt hatte, checkten wir um kurz vor 8 aus und begaben uns auf den Abstieg. Nach etwa fünzig Metern musste ich das Klebeband vom Boden einsammeln und unserer Müllsammlung hinzufügen, welche ich nun wieder an meinem Rucksack befestigt an mir herumtrug. Während wir für den Aufstieg 4 Stunden gebraucht hatten, benötigten wir für den Abstieg nur noch 3 Stunden. Wir schleppten uns mit dem letzten bisschen Energie zum Restaurant des Papigko Towers Hotels, wo wir festlich schmausten und die Füße hochlegten. Der Kellner brachte mir Eis und ich kühlte meine Leiste, während wir unsere Weiterfahrt nach Albanien planten.